Freie Lebensform

Christoph Böhme, Wolfram Höhne über Kunst auf Kunstmessen, Veröffentlichung als Wandtext auf der arttfrankfurt 2001
  
Es gibt Lebewesen, die ihre Farbe wechseln können. Oft sind das verteidigungsschwache oder besonders langsame Spezialisten. Die Möglichkeit des Farbwechsels verschafft ihnen einen Vorteil gegenüber schnelleren und stärkeren Lebewesen. Die schnelleren werden für sie Nahrungmittel und die stärkeren Unterhaltungsprogramm. Das Ergebnis des Farbwechselvermögens ist bekanntlich eine höhere Lebenserwartung. Wenn die Kunst sich nicht anpaßt, wird sie gefressen.
Farben, die Leinwänden aufgetragen werden, tun sich schwerer mit Veränderungen. Je nachdem, ob das Holz, welches die Leinwand hält, ein Mast oder ein Rahmen ist, kann ein neuer Anstrich unterschiedliche Wirkungen hervorrufen. Am besten ist dieser stoffliche Unterschied zu beobachten, wenn man den Richter im Reichstag mit dem Richter auf dem Reichstagsdach nach dem Einmarsch vergleicht. Die Kunst hat gezeigt, daß jenes Prinzip, nachdem der Stoff an vier Seiten festgenagelt wird, am bewährtesten ist. Denn sogar dünnste Stoffe werden dadurch völlig unhandlich. Welche Transportprobleme sich dadurch nach wie vor ergeben, berichtet die Geschichte eines Mannes, der für eine Ausstellung wenige Körner Mondstaub befördert hatte. Auf einer Zugreise zerbrach die gläserne Probe in seiner Handtasche. Er schüttete Scherben und Staub auf den Boden des Wagons und sammelte alles in sein Brillenetui hinein. Das Konglomerat aus dem Etui ist seither als Mondgestein unter das Microskop einer Ausstellung gekehrt.
Auch Menschen können ihre Farbe verändern. Das ist aber - anders als im ersten Fall - noch keine Garantie für ein längeres Leben. Meistens bewirkt eine vorteilhafte Kleidung sogar Nachteile. Nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer, die sich der Nacht anpassen riskieren ihr Leben unmittelbar. Besonders auffällig Gekleidete widerum machen sich zur Zielscheibe von Ungeheuern, die alle krellen Farben anspringen.
Der Inhalt soll nicht in die Form entsorgt werden. Wenn es einer Person durch bloßes Umkleiden gelingt, länger und besser zu leben, so ist das für sie ein Fortschritt. Kunst allerdings ist nicht gleich fortschrittlich, bloß weil sie unter schwierigen Bedingungen zustande kommt.
Obwohl sich Kunst meistens in Labyrinten wie diesem zeigt, wird sie zu den freien Lebensformen gerechnet. Das hat damit zu tun, daß ein Labyrint nicht bewohnbar ist. Es zeigt sich als Flur, der nichts verbindet. Eine Durchquerung auf kürzestem Weg kann nur zufällig gelingen. Wenn davon ausgegangen werden kann, daß es im strengen Sinn labyrintisch nur ein VOR oder ZURÜCK gibt, sind nur Vergangenheit und Zukunft beschreitbar. Wenn sich in Zukunft daran etwas ändern soll, muß der Ausgang gefunden werden, den die Anstrengung der Flurdurchquerung in unerreichbare Ferne rückt. Das Vertrauen in die Zukunft vereitelt Veränderungen in der Gegenwart. Und seit dem dieses Vertrauen ausgesprochen wird, verelendet das Verhältnis zwischen Kunst und Publikum. Freie Lebensformen bilden sich aus einer Gegenwart heraus, die bald verlorengeht. Weil Labyrinte nicht über Gegenwart verfügen, geraten die Kunstwerke in sie hinein.
Zukunftsmusik beginnt wie Techno: mit dem Violinschlüssel.