Höhendrang und Himmelssehnsucht - Der Turm als symbolische Form

Magdalene Magirius

An Turmbesteigungen scheiden sich die Geister. Endlich auf dem Gipfel angekommen nach einer mühsamen Wanderung, ist das Ziel für manche noch lange nicht erreicht. Steht dort ein Aussichtsturm, muss auch dieser noch erklommen werden. Wie kommt es, dass Menschen oft so hoch hinaus wollen? Ist es ein Trieb wie Hunger und Durst, dass sie auf Berge steigen? Berg und Turm- beides sind Symbole für Aufstieg und Höhe. Doch während der Berg natürlich entstanden ist und als Bild ursprüngliche Kraft besitzt wie die Elemente Feuer, Wasser, Wind und Erde, sind Türme von Menschenhand geschaffen und verdeutlichen abbildhaft menschliches Wirken. Türme gab und gibt es in den verschiedensten Kulturen und Epochen. Sie wurden ursprünglich häufig in Verbindung mit Heiligtümern errichtet. Die gewaltigen, terrassenartig gestuften Tempel Mesopotamiens, die eindeutig Turmcharakter besitzen, wurden als Zikkurate, Himmlische Berge, bezeichnet. In der bildenden Kunst Europas wurde diese Turmform seit dem Mittelalter häufig dargestellt, um die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel zu veranschaulichen. Hier erscheint der Turm als Symbol für menschlichen Hochmut. Das Volk von Babel (Babylon) wollte einen Turm errichten, der bis zum Himmel reichen sollte. Gott aber verhinderte diese himmelsstürmende Unternehmung, zerstörte das begonnene Werk und strafte die Baumeister durch eine Sprachverwirrung. Sie konnten einander nicht mehr verstehen und zerstreuten sich in alle Winde. Wenn wir an Türme denken, fällt vielen zuerst der Kirchturm ein. Türme an oder bei Kirchen waren durch Jahrhunderte hindurch eine wichtige Aufgabe der Architektur. Kirchtürme vereinten unterschiedliche Funktionen, sie konnten im Mittelalter nicht nur als Uhr- und Glockenturm, sondern auch als Wach- oder Wehrturm dienen. Als symbolische Form liegt ihnen allen eine gemeinsame Idee zugrunde: Besonders die steilaufragenden Westtürme gotischer Kathedralen mit ihren hohen, spitzen Helmen versinnbildlichen die Sehnsucht der Menschen, dem Himmel näherzukommen. Neben dem religiösen Sinngehalt, der den Bau von Türmen von Anbeginn bestimmte und dem Bild vom Turm zugrunde liegt, gibt es eine Reihe weiterer Funktionen und Bestimmungen, die gebaute Türme übernehmen und ebenso viele Assoziationen, die ihre Darstellung beim Betrachter hervorruft. So sind Stadtmauern und Tore oft mit Türmen versehen. Sie drücken - beispielsweise auf alten Stadtansichten oder auf Wappen - Wachsamkeit und Schutz aus. Eine andere, bis in heutige Zeit reichende Bedeutungsebene des Turmbaus ist die Repräsentation von Macht. Wir erkennen diese Absicht an Rathaustürmen wieder, im Schlossbau und ebenso in den gläsernen, einander in der Höhe übertrumpfenden Bürotürmen unserer Zivilisation. Als Beispiel für den hohen Sinngehalt funktionaler Türme muss zuerst der Leuchtturm genannt werden. Er weist den Seeleuten in der Dunkelheit den Weg zum Hafen. Im übertragenen Sinn steht der Leuchtturm als Orientierungspunkt für menschliches Leben überhaupt ‹ sein Licht scheint dem, der in der Finsternis einen Weg sucht, hoffnungsvoll entgegen. Zahlreiche neue Turmformen entstanden seit der Industrialisierung durch die Anforderungen der Technik für Industrie, Handel, Verkehr, Tourismus oder für wissenschaftliche Zwecke. Neben diese Leistungen der Ingenieurbaukunst traten denkmalartige Türme, wie beispielsweise die "Bismarcktürme", die in Deutschland um 1900 weit verbreitet waren. Zu den Aufgaben der gegenwärtigen Turmbaukunst zählen der Hochhausbau und besonders die schwerelos erscheinenden Funk- und Fernsehtürme, die bislang ungeahnte Höhen erreichen. In allen seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen bleibt die Grundform des Turmes als steiles, zum Himmel aufragendes Bauwerk bestehen. Es symbolisiert die Bemühung des Menschen, das alltägliche Niveau zu überschreiten. Das Besteigen von Türmen löst gegensätzliche Emotionen aus: Es ist mit der Freude des Emporkommens und der Angst vor dem Sturz verbunden. Der Drang des Menschen, Türme zu errichten, hat vergleichbare Wurzeln wie die Lust an der Besteigung von Aussichtspunkten oder hohen Bergen. Der Blick von oben kann uns Einsichten verschaffen, die wir aus gewohnter Perspektive nicht wahrnehmen können. In bildender Kunst und Literatur sind nicht nur Turm und Berg, sondern auch der Erkenntnisprozess, der in dem "Blick von oben" liegt, oft dargestellt und beschrieben worden. Eines der eindrücklichsten Zeugnisse ist der Bericht des Dichters Francesco Petrarca (1304-1374) über die Besteigung eines hohen Berges in Südfrankreich. Er berichtet von dem Reiz der Reisevorbereitung und von den Mühen des Aufstiegs auf den Mont Ventoux. Die Beschreibung endet mit der Schilderung des schweigsamen Abstiegs, den er seinem Begleiter zumuten musste. Petrarca hatte, um "nach dem Beispiel des Leibes auch die Seele zum Höheren" zu erheben, auf dem Gipfel des Berges in einem mitgeführten Werk des Kirchenvaters Augustinus (gest. 430) an einer zufällig aufgeschlagenen Stelle gelesen. In seinem Brief gibt er die Passage, die ihn von da an vorübergehend verstummen ließ, nochmals wieder: "Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst."